WM | Interview mit Bundestrainerin Isabelle Baumann

  27.08.2023    WLV Wettkampf BLV Top-News BLV BLV-Läufe BW-Leichtathletik Top-Events Top-News BW-Leichtathletik Wettkampfsport Leistungssport
Isabelle Baumann ist bei der WM in Budapest als Bundestrainerin im DLV für die Langstrecken im Einsatz. Die ehemalige 1.500 Meter-Läuferin, die bei der LAV Stadtwerke Tübingen eine 30-köpfige Leistungsgruppe betreut, kennt aus 35 Jahren Trainererfahrung den Laufsport national, wie international in- und auswendig. Unser Mitarbeiter Ewald Walker hat Baumann bei schweißtreibenden Bedingungen an der Donau getroffen.

Isabelle Baumann, wie erleben Sie diese WM in Budapest bzgl. der Stimmung, Begeisterung und Akzeptanz?

Die Stimmung ist extrem positiv und was man merkt: Ungarn ist sehr modern geworden und auch die Anlagen stellen alles bereit, was man sich nur wünschen kann. Was die digitalen Voraussetzungen und die Unterhaltung angeht, machen sie richtig gute Sachen. Beim Publikum ist eine große Begeisterung da und auch wenn sie national anfeuern, wenn  man gesehen hat, wie sie die beiden Stabhochspringerinnen durchgetragen haben, ist es für Jeden ein Erlebnis, hier zu sein.

Was hat Sie bislang am meisten beeindruckt?

Dass das Stadion immer sehr gut besucht ist, auch morgens schon bei den Vorkämpfen. Abends ist es dann noch besser.

Was sagen Sie zu den „Überfliegern“ im Laufbereich, beispielsweise die Kenianerin Faith Kipyegon, die kürzlich innerhalb weniger Tage drei Weltrekorde aufgestellt hat und auch hier glänzt, die Niederlage des scheinbar unbezwingbaren Norweger Jakob Ingebrigtsen oder sein Landsmann Karsten Warholm?

Ich sehe die Vielstarterei kritisch. Wenn man sieht, dass die Holländerin Siffan Hassan drei Mal auf der Bahn war und völlig harte Rennen läuft und dabei keine Anzeichen von Ermüdung zeigt, da habe ich Bedenken. Ich sehe keine deutsche Läuferin, die diese Belastung auf sich nehmen kann. Auf den Mittelstrecken ist eine wahnsinnige Leistungsdichte vorhanden. Es ist schön, dass beispielsweise über 1500 Meter der Männer von 12 Finalisten acht Europäer sind. Die Dichte ist auch bei den Frauen europäisch. Das macht Mut. Wir können das.

Die Erfolge des deutschen Teams sind bislang eher bescheiden. Wie erleben Sie die Stimmung im deutschen Team?

Einfach richtig gut. Es herrscht eine gute, fröhliche Atmosphäre. Die beiden Kapitäne Christopher Linke und Gina Lückenkemper, die eine ganz tolle Ausstrahlung haben auf die Jungen. Man merkt eine gewisse Nervosität und Zerknirschtheit bei den Verantwortlichen im DLV angesichts des Abschneidens. Das kann ich verstehen. Man muss aber auch sagen, dass es nicht ganz unerwartet kommt. Beim Hochspringer Tobias Potye hat das Quäntchen Glück gefehlt. Mit einem Fehlversuch weniger hätte er Bronze gewonnen. Es ist nicht so, dass man hier mit hängenden Köpfen herumläuft.

Der DLV ist im Vorfeld durch eine Verletzungsmisere von acht Leistungsträgern gebeutelt. Gibt es Erklärungen hierfür? Man hört aus Athleten und Trainerkreisen, dass die neuen Carbonsohlen in Lauf und Sprintschuhen ein Grund sein könnten.

Ganz sicher sind die orthopädischen Probleme ein Problem des Schuhmaterials. Das Motto höher, schneller weiter verfolgen auch die Schuhfirmen. Man muss aber vernünftiger werden und die Erfahrungen in neue Konzepte einbringen. Jemand wie Hanna Klein wird diese aggressiven Schuhe im Training gar nicht anziehen.

Was ist denn das Besondere an dieser Carbonsohle? 

Diese Sohle ist sehr hart, bringt den Fuß in eine bestimmte erhöhte Position und katapultiert einen nach vorne. Dadurch wird die Schrittlänge und die Belastungen größer. Was der Fuß aber dann nicht mehr kompensieren kann, geht im Körper nach oben, an die Achillessehne, die Muskulatur, kann zu Verletzungen führen. Eine Rolle spielt aber auch die Hatz der nationalen und internationalen Meisterschaft mit vielen Wettkämpfen in kurzer Zeit.

Welche Aufgaben nehmen Sie im Laufbereich als Bundestrainerin wahr, wie viele Athletinnen/Athleten betreuen Sie?

Ich habe meinen Einsatz zur Disposition gestellt, als Konstanze Klosterhalfen abgesagt hat. Chef-Bundestrainerin Annett Stein hat mich gebeten, dennoch zu kommen. Ich war bei Nils Voigt im Einsatz, bei den Gehern an der Stecke, habe mit Christina Hering die Vorbereitung für Vor- und Zwischenlauf gemacht. Wir Trainer müssen immer mehr dahin kommen, dass wir die Athleten spüren lassen, wir sind für sie da. Ich habe mich mit der Hindernisläuferin Olivia Gürth gefreut, dass sie ins Finale vorgedrungen ist.

Der Leistungsstand wurde in den Wochen und Monaten im Training vor der WM erarbeitet. Was bleibt da in den letzten Tagen vor einem Wettkampf zu tun?

Als Nicht-Heimtrainerin muss man vor allem das Organisatorische – wann gehen sie ins Training, wer braucht bei der Hitze Kühlwesten usw. – klären. Darüber hinaus versuche ich mit Rat aus vielen internationalen Meisterschaften parat zu sein.

Zu Zeiten, als ein Dieter Baumann Olympiasieger wurde und auch davor hatte der DLV den Ruf als „Deutscher Läuferverband“. Woran liegt es, dass die deutschen Läuferinnen und Läufer an der Weltspitze gemessen so ins Hintertreffen geraten sind?

Die Frage stelle ich mir auch, kann sie aber nicht beantworten. Es ist eine zentrale Frage. Wir haben zu sehr nach den Afrikanern geschaut oder nach Leuten wie dem Norweger Jakob Ingebrigtsen und keine eigenen Konzepte entwickelt. Wir müssen wohl zu alten Wegen zurückfinden, denn eine 1:44 oder 1:45 Minuten über 800 Meter bei den Männern können wir auch. Ich denke, es ist uns die Mentalität, der Wille, verloren gegangen.

Ist der Leistungsgedanke in unserer Gesellschaft nicht mehr so verankert, dass die Athletinnen und Athleten in letzter Konsequenz genug Motivation und Hingabe aufbringen?

Wir haben ganz klar ein gesellschaftliches Problem mit Leistung bzw. Leistungssport und wir müssen da tatsächlich im schulischen Sektor ansetzen. Die Ausbildung zum Sportlehrer hat an Stellenwert verloren, sie hat den Leistungsgedanken oftmals aufgegeben. Man macht Spiele ohne Verlierer, orientiert sich an Trendsportarten. Wenn das ausnahmslos stattfindet, dann verlieren wir den Ansatz derer, die tatsächlich Leistung bringen wollen. Als Sportlehrerin in der Schule kann ich das beobachten. Ja, es ist schwierig den hohen Leistungsanspruch weiter zu vertreten. Die Welt, das ist hier in fast jeder Disziplin zu sehen, lebt vom amerikanischen Collegesystem, von der Verbindung von Leistungssport und Ausbildung an einem Ort. Das zeigt auch diese WM und deren Medaillengewinner.

Dabei ist die duale Karriere mit Beruf oder Studium, kombiniert mit Leistungsport immer wieder in der Diskussion. Wie ist diesbezüglich Ihre Meinung?

Ich habe selbst dieses amerikanische Collegesystem durchlaufen. Das ist eine unheimliche Chance, die bei uns noch immer negativ gesehen wird. Wir haben immer noch keine flächendeckende Absicherung unserer Athleten mit Ausnahme bei der Bundespolizei. Bei der Absicherung durch die Bundeswehr fehlt mir bislang die berufliche Ausbildung. Ein aktuelles Beispiel ist Katharina Trost (Anm: siebenfache deutsche Meisterin aus München) hat nach Abschluss ihres Lehramtsstudiums auf dem Weg nach Paris zu den Olympischen Spielen jetzt beantragt, nicht die volle Stundenzahl von 28 Stunden absolvieren zu müssen. Ihr Antrag wurde von ihrem Kultusministerium abgelehnt. Da darf man sich nicht wundern, wenn die Athleten dann aussteigen.

Welche Eindrücke werden Sie von dieser außergewöhnlichen Stadt an der Donau mitnehmen?

Ich kenne die Stadt, ich mag sie. Mein Großvater kommt aus Budapest und mein Vater stammt aus Wien, deshalb habe ich eine enge Beziehung hierher. Es ist eine tolle Stadt geworden. Ulm, Wien, Budapest, die Donau ist meine Ader. Allerdings: die deutsche Botschafterin war bei uns im Hotel und hat gesagt, wie wichtig es ist, dass diese WM in Budapest stattfindet. Aber warum wählen sie dann einen Viktor Orban, warum wird das System so gestützt? Wenn ich mir die Sportstätten hier anschaue, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass Budapest auch Olympia kann.

Ewald Walker / blv

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